Als Stadtplaner beschäftige ich mich intensiv mit der Entwicklung von Städten. Ich wohne in Hamburg, die Orte meines Alltags interessieren mich insbesondere. Klar ist: Der Wandel ist eine Konstante. Es ist erstaunlich, wie eine Stadt in nur wenigen Jahren oder Jahrzehnten ihr Gesicht verändern kann. Das ist grundsätzlich immer so, umso mehr gilt es natürlich bei historischen Zäsuren wie beispielsweise Kriegen. Hamburg hat, wie viele europäische Städte, mit den Bombardierungen des zweiten Weltkriegs, insbesondere dem Feuersturm durch die Operation Gomorrha im Sommer 1943, eine solche Zäsur hinter sich. Wie stark solche Zäsuren das Gesicht einer Stadt verändern, ist Jahrzehnte später für viele Menschen nur noch schwer nachvollziehbar. Denn so konstant der Wandel, so vergänglich ist die Erinnerung an das, was vorher war. Die interaktive Schadenskarte Hamburg vermittelt ein Bild davon, wie die alte Stadt mal war, und wie die heutige Stadt ist.
Als geschichtlich interessierter Stadtplaner habe ich seit ich in Hamburg lebe unzählige historische Fotos und Postkarten von vor dem Krieg angeschaut und sie mit der heutigen Situation der Orte verglichen. Gleichzeitig habe ich auch einige alte Karten, anhand derer ich die Fotos verorte und die städtebauliche Entwicklung nachvollziehe. Seit einigen Jahren treibt mich der Gedanke um, zumindest Teile von dem, was in meinem Kopf an Bildern und Karten herumschwirrt, niedrigschwellig öffentlich verfügbar zu machen.
Jetzt ist ein erster Prototyp fertig. Die Online-Schadenskarte Version 1.0. Genau um diesen Prototypen geht es heute: Eine interaktive Online-Kartenanwendung, die die Hamburger Schadenskarte mit dem aktuellen Stadtplan verknüpft und historische Luftbilder aus (etwa) den 1930er-Jahren mit den heutigen Situationen vergleicht. Die Anwendung ist hinsichtlich der Benutzerführung und des technischen Aufbaus noch nicht so, wie ich es mir idealerweise vorstelle. Aber für einen ersten veröffentlichbaren Prototypen denke ich gut genug. Es wird aber sicher, wenn ich mal die Zeit dafür finde, eine einfacher nutzbare Version 2.0 geben. Irgendwann.
Es hat einige Jahre gedauert, bis ich tatsächlich begann, die Idee in die Tat umzusetzen. Vielen Dank an dieser Stelle an die HPA, von der ich nach längerer Suche drei Kartenblätter zur Verfügung gestellt bekam, die mir jahrelang fehlten. Dann begann ich mit der Georeferenzierung der Kartenblätter, der Erarbeitung der interaktiven Online-Karte und der Beschaffung der Luftbilder. Vielen Dank an dieser Stelle an Joachim Paschen für die freundliche Unterstützung bei der Beschaffung der historischen Luftbilder und an Rolf Schröder für die Bereitstellung des Geoservers.
Die Karte in ihrer zusammengesetzten Form inklusive der Luftbilder bietet meiner Meinung nach einen interessanten Blick auf Hamburg damals und heute. Es wird anhand des Hamburger Beispiels deutlich, welchen unwiederbringlichen Schaden Deutschland mit einem völlig sinnlosen und menschenverachtenden Krieg verursacht hat. Ein großer Teil des alten Stadtgewebes ist durch die vielen Bombardierungen zerstört worden. Insbesondere weite Teile des Hamburgs östlich der Alster gingen im Feuersturm der Operation Gomorrha Ende Juli 1943 unter. Die verbliebenden Reste wurden dann von den Leitbildern der Stadtplanung der Nachkriegsjahre zu Grabe getrangen, bei der die Funktionstrennung, offene Bebauung mit endlos gleichen Zeilenhäusern und eine Fokussierung auf das Automobil als Fortbewegungsmittel im Mittelpunkt standen. Die Konsequenzen dieser Entwicklungen prägen weite Teile der Stadt Hamburg bis heute.
Geben Sie mir gerne Rückmeldungen, wenn irgendetwas technisch nicht funktioniert. Aber bitte berücksichtigen Sie: Ich bin kein Webentwickler. Die Kartenanwendung ist das mit großem Zeitaufwand in meiner Freizeit laienhaft zusammengeschusterte Werk eines IT-Fachfremden. Ich bitte daher um Nachsicht, freue mich aber immer über freundliche Hinweise auf eventuelle Fehler oder Anregungen zur Verbesserung.
Derzeit sind nur etwa 10 Luftbilder in die Kartenanwendung eingebunden, die sich vor allem auf die Innenstadt konzentrieren. Ich werde in den kommenden Wochen nach und nach mehr Luftbilder hinzufügen. Im Endprodukt soll es über die gesamte Stadt verteilt Luftbildvergleiche geben.
Bevor es jetzt aber wirklich zur Karte geht, einige Worte vorab.
Vorwort
Die Kartenanwendung zeigt vor allem eins: Wie gefährlich Nationalismus sein kann. Gerade in Zeiten europaweit erstarkender rechter Parteien ist die Karte mahnendes Beispiel dafür, wohin nationale Überheblichkeit führen kann. Deutschland hat auf Grundlage einer absurd nationalistischen und menschenverachtenden Ideologie einen maßlosen Vernichtungskrieg entfesselt. Dieser maßlose Krieg, den Deutschland in die Welt getragen hat, er kam schon bald wieder zurück nach Hause. Anhand des Hamburger Beispiels mit der Operation Gomorrha wird deutlich, welch unwiederbringlicher Schaden damit verursacht wurde.
Die Schadenskarte ist ein mahnendes Beispiel dafür, wie sinnlos und unwiederruflich Städte und die Menschen, die sie bewohnten, in Schutt und Asche gelegt wurden. Nicht nur in Hamburg und nicht nur in Deutschland. Sondern in Europa zuallerst außerhalb Deutschlands. Und wie in Hamburg liegen die Wunden dieser Zerstörungen in vielen Städten bis heute, Jahrzehnte später, im Stadtgewebe offen. All diese Orte und so viele Leben in ihnen gingen für immer und unwiederbringlich verloren.
Die Kartenanwendung zeigt, was war. Und sie zeigt, was heute ist. Und sie zeigt damit auch, was verloren ging. Sie zeigt am Beispiel Hamburgs, wie viele Jahrzehnte und Jahrhunderte an Kulturleistung durch blinden Nationalismus und faschistische Ideologie innerhalb von nur zwölf Jahren ausgelöscht werden können. Wenn man nur den Fehler begeht, ihnen zur Macht zu verhelfen. Wir dürfen das nicht vergessen. Vielleicht kann die Karte somit auch ein Stück weit helfen, die Erinnerung daran aufrechtzuerhalten.
Die Kriegszerstörungen wurden im Ausgangspunkt von Deutschland verursacht. Die Art und Weise des Wiederaufbaus auch. Daraus müssen wir Lehren ziehen, wenn wir es in Zukunft besser machen wollen. Ich wünsche ein interessiertes Erkunden der Karte und Luftbilder.
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Neben diesem allgemeinen Vorwort, liefert der Vergleich von Alt und neu aber noch weitere Erkenntnisse und Thesen. Die Karte kann sehr explorativ genutzt werden. Für mich persönlich veranschaulicht sie insbesondere folgende sechs nicht abschließende Punkte. Es steht jedem frei, sie zu prüfen, zu bestätigen, sie zu widerlegen oder eigene Erkenntnisse daraus zu ziehen.
Der Flächenverbrauch hat enorm zugenommen, die Grenze zwischen Stadt und Land ist verschwommen
Allein die Ausdehnungen der Schadenskartierung zeigt deutlich: Die Siedlungsfläche Hamburgs (zusammen mit den 1937 im Groß-Hamburg-Gesetz eingemeindeten Nachbargemeinden, u.a. Harburg, Altona, Wandsbek und Bergedorf) beschränkte sich vor dem Krieg auf deutlich weniger Raum. Dabei beherbergte die Stadt annähernd gleich viele Bewohner wie heute. An den äußeren Blatträndern der Schadenskarte ist die Stadt im Prinzip zu Ende. Unmittelbar hinter den Wohnblocks beginnt das Ackerland.
Im Vergleich zum heutigen Stadtgrundriss ist vor diesem Hintergrund der enorme Flächenverbrauch deutlich ablesbar, den die Nachkriegsraumplanung mit sich brachte. Wenn auch sicherlich die damaligen Wohnverhältnisse oft extrem und nicht erstrebenswert waren, bot die Stadt damals annähernd gleich vielen Menschen wie heute eine Behausung mit kurzen Wegen, gutem ÖPNV-Angebot und lebendigen öffentlichen Räumen.
Das, was extrem und nicht erstrebenswert war, war aber nicht vordergründig die Bevölkerungsdichte an sich, sondern die Umstände, in denen gewohnt wurde (siehe auch den nachfolgenden Punkt). Dass hohe Bevölkerungsdichte und hohe Lebensqualität sich absolut nicht ausschließen, zeigen zahllose europäische Städte, die weniger stark zerstört und daher auch weniger stark von der Nachkriegsstadtplanung überformt wurden. Als Beispiele genannt seien Madrid, Barcelona, Paris oder im deutschsprachigen Kontext insbesondere Wien.
Ähnlich wie vor dem zweiten Weltkrieg auch die übrigen deutschsprachigen Großstädte hat Wien bis heute aufgrund der geringen Kriegszerstörungen insbesondere in den inneren Bezirken Bevölkerungsdichten von deutlich über 20.000 Einwohnern je Quadratkilometer – ähnlich wie Hamburg früher. Dennoch belegt die Stadt Jahr für Jahr in verschiedenen Städterankings vorderste Plätze und wird oft als lebenswerteste Stadt der Welt gelistet.
Deutsche Städte hingegen sind durch die Paradigmen der Nachkriegsraumplanung stark aufgelockert wieder aufgebaut und damit auch stark zersiedelt worden. Sie sind „ausgefranst“. Während in der Schadenskarte also noch eine klare Grenze zwischen Stadt und Land ablesbar ist, beginnt im heutigen Kartenbild eine sich kilometerweit ins Umland ausdehnende Zersiedelung von lockerer Mietshausbebauung und Reihen- und Einfamilienhäusern. Hamburgs heutige Siedlungsgrenze ufert endlos aus und verschwimmt teils mit den umliegenden Gemeinden. Wo die Stadt endet und wo das Land beginnt, ist unklar. Dieses Phänomen ist in der Stadtplanung von unterschiedlichsten Akteuren thematisiert worden, Begriffe dafür sind u.a. Zwischenstadt oder Suburbanisierung.
Wo früher noch Ackerland und Viehwirtschaft vorherrschten, ist heute eine zersiedelte Wüste aus Reihen- und Einfamilienhäusern, die den dort wohnenden Menschen wenig lebendige öffentliche Räume und eine meist starke Abhängigkeit vom Automobil beschert. Und dem Rest der Gesellschaft beschert sie einen enormen Ressourcenverbrauch und volkswirtschaftliche Kosten. Unzählige laute und ungesund machende, in die Stadt einpendelnde Autos und eine vom Steuerzahler sehr teuer subventionierte Daseinsvorsorge in diesen dünn bewohnten Gegenden.
Wer diese Entwicklung noch näher anhand von Kartenmaterial nachvollziehen möchte, dem seien die historischen Karten im Geoportal der Stadt ans Herz gelegt. Die Schadenskarte basiert auf der amtlichen Grundkarte aus dieser Zeit. Anders als die Schadenskarte, die sich auf die dicht bebauten Gebiete konzentriert, umfasst die Grundkarte das gesamte Stadtgebiet und bietet somit einen noch weiträumigeren Blick. Die Karte kann im Geoportal über die Navigation oben links unter Fachdaten -> Umwelt -> historische Karten -> Jahrgang 1940-1950 angezeigt werden.
Dass die „Mietskaserne“ einen so schlechten Ruf hatte, lag weniger an architektonisch-städtebaulichen Ursachen, sondern in erster Linie an sozialpolitischen
Man darf die gründerzeitliche Stadt nicht verklären. Die „alte Stadt“ mit ihren gründerzeitlichen, überbelegten Mietskasernen war an den meisten Stellen Produkt eines nahezu unregulierten Wohnungsmarktes und Immobilienspekulation. Heute würde man das wohl Turbokapitalismus nennen. In der Enge der Hinterhöfe zu wohnen, überbelegt und mit Schlafgängern, in einer viel zu kleinen Wohnung ohne ausreichend sanitäre Ausstattung – das war sicher kein Vergnügen.
Man muss vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen Verständnis dafür haben, dass die Planung sich von dieser Art, Städte zu bauen, abwandte. Aber man muss die Situation auch im Kontext der Zeit sehen. Diese Bedingungen waren für die meisten Menschen immer noch besser (oder zumindest nicht schlechter), als das Leben auf dem Land, das sie für ihre Zukunft in der Stadt zurückließen. Auch dort war das Leben kein Zuckerschlecken – deswegen zog es die Menschen ja stattdessen in die Städte.
Dennoch herrschten im in den historischen Fotos und der Schadenskarte abgebildeten damaligen Hamburg natürlich vielerorts Zustände, die unhaltbar und nicht erstrebenswert sind. Nicht ohne Grund stiegen aus der dunklen Enge der gründerzeitlichen Stadt zunächst mit dem Reformwohnungsbau und später mit der Charta von Athen und der Hinwendung zum Funktionalismus Planungsparadigmen auf, die sich ganz bewusst von dieser „alten Stadt“ abwendeten und das Heil zunächst in mehr Licht, Luft und Sonne und später in streng nach Funktionen getrennten Stadtteilen suchten.
Und natürlich ist aus damaliger Perspektive verständlich, dass man sich von dieser Art und Weise, Städte zu planen, radikal abwandte. Gerade in Hamburg führten auch die Erfahrungen des Feuersturms der Operation Gomorrha dazu, dass man weniger dicht und stattdessen mit mehr Abständen bauen wollte. In Zeiten des Wiederaufbaus unmittelbar nach dem Krieg konnte niemand damit rechnen, dass Deutschland acht Jahrzehnte Frieden bevorstehen würden. Der zweite Weltkrieg saß noch tief, der kalte Krieg stand vor der Tür. Dass sich das in der Planung niederschlägt, ist nur allzu verständlich.
Betrachtet man die Schadenskarte und vergleicht sie mit heute, wird aber auch deutlich, dass gerade jene Bereiche der inneren Stadt (sagen wir mal, etwa innerhalb des Ring 2), die von der Operation Gomorrha weitestgehend verschont geblieben sind, auch die sind, die heute überdurchschnittlich nachgefragt werden. Insgesamt sind sie die in der öffentlichen Wahrnehmung positiv besetzten, „angesagten“ Stadtteile. Im Reiseführer und im Stadtmarketing sind es nicht Hamm und Borgfelde, die bebildert und mit Touren beschrieben werden. Es sind Winterhude um den Mühlenkamp, die Schanze, Eimsbüttel, Eppendorf usw. Und das sind Beobachtungen, die nicht nur für Hamburg gelten, sondern in vielen deutschen Städten in ähnlicher Form nachvollziehbar sind.
Früher verhasst, heute heiß begehrt
Man sollte sich dabei vergegenwärtigen: Die Dreizimmer-Altbauwohnung, die den Krieg überdauerte, im intakten Stadtquartier mit kurzen Wegen zu allen Dingen des täglichen Bedarfs, wird heute auf den einschlägigen Immobilienportalen extrem nachgefragt. Vor über 100 Jahren war die gleiche Wohnung mit dem (annähernd) gleichen Grundriss Sinnbild dafür, weswegen man sich von der gründerzeitlichen Stadt abwandte. Denn sie war höchstwahrscheinlich gnadenlos überbelegt, teils in Tag- und Nachtschichten, und im verfügte im schlechtesten Fall noch nichtmalmehr über vernünftige Sanitäranlagen.
Meiner Meinung nach zeigt das: Die Gründe dafür, dass man diese Wohnungen und diese Art von Stadt grundlegend ablehnte sind nicht ursächlich in der Architektur oder dem Städtebau zu suchen. Die Ursachen für diese schlechten Zustände lagen vielmehr in der Art und Weise, wie die Gesellschaft und die Stadtentwicklung damals organisiert war. Das Bildungsniveau in der breiten Bevölkerung war gering, soziale Absicherung kaum vorhanden. Gesellschaftsverträgliche Stadtentwicklung gab es nicht. Der Wohnungsmarkt war weitestgehend dereguliert, der Staat hielt sich nahezu komplett raus und kümmerte sich nicht um das Problem. Dadurch gab es auch insgesamt viel zu wenig Wohnraum.
Wollte ein privater Investor oder die Stadt ein Projekt entwickeln, beispielsweise in der Alt -und Neustadt, wurde die dortige dicht bewohnte Bebauung schlicht abgerissen und die Bewohner ihrem Schicksal überlassen. Die Menschen waren teils innerhalb weniger Tage auf der Straße und in dieser Notlage schlicht den Immobilienspekulanten und „Miethaien“ ausgeliefert. Wer in den alten Gängevierteln der Alt- und Neustadt oder auch auf dem Gebiet der heutigen Speicherstadt wohnte und großflächigen Stadtrenovierungsprojekten zum Opfer fiel, musste halt sehen, wo er in den Mietskasernen unterkam. Durch das geringe Bildungsniveau in den unteren Schichten war in den überbelegten Wohnungen oft auch nur wenig Wissen über sanitäre Grundregeln vorhanden. So kam es zu unhaltbaren Zuständen. Die Ungleichheit war groß, die Belange der untere Bevölkerungsschichten zählten nicht viel.
Natürlich war es auch hilfreich, dass der technische Fortschritt und der steigende Wohlstand beispielsweise für Sanitäranlagen in jeder Wohnung sorgte. Sicher auch keine schlechte Idee, die Müllverbrennungsanlage oder das Kohlekraftwerk nicht mehr unmittelbar neben die Wohnblocks zu setzen. Aber auch die damals moderne Dreizimmer-Wohnung im Nachkriegszeilenbau wäre im Ausgangspunkt wohl sicher als unhaltbarer Zustand empfunden worden, wenn man dort mit 15 Leuten auf 50 m² hätte wohnen müssen, die trotz 12 Stunden Arbeit täglich wenig Geld und wenig Möglichkeiten/Bildung zur Einhaltung von Hygienestandards haben.
Neue Städte machen keine neue Gesellschaft – eine neue Gesellschaftsorganisation macht eine neue Gesellschaft
Auch wenn die damalige Dichte teilweise sicher wirklich extrem war: Die gründerzeitliche Stadt war nicht im Ausgangspunkt schlecht, weil sie schlecht gebaut war. Sie war schlecht, weil die Gesellschaft, in der sie entstand, extrem ungleich organisiert war und es kaum sozialen Ausgleich gab. Es ist am Ende nicht entscheidend, ob man so ein Leben im Zeilenbau der Nachkriegszeit oder im gründerzeitlichen Altbau führt. Unter diesen Bedingungen wäre das Leben wohl auch in der funktionsgetrennten Stadt als unzumutbar empfunden worden.
In Le Corbusiers Plänen zur Überplanung von Paris, die in Hamburg beispielsweise in ähnlicher Form in den Nachkriegsplänen für St. Georg („Alsterzentrum“) oder Ottensen („City West“) abgebildet sind, zeigen sich in diesem Sinne auch die Hybris der Stadtplanung und Architektur. Das, was die Operation Gomorrha und der Krieg übrig ließ, wollte man für die neue Stadt auch noch großflächig wegreißen.
Man wollte mit neuen Gebäuden und neuen Städten zu einer besseren, gesünderen Gesellschaft. Natürlich kann man nicht verleugnen, dass Stadt und die gebaute Umwelt auch einen großen Einfluss auf das Leben der Menschen haben. Der wirksamste Hebel dafür liegt aber in der Politik und der Art und Weise, wie die Gesellschaft organisiert wird, beispielsweise durch gute Sozialgesetzgebung und eine freiheitliche Demokratie. Eine andere Gesellschaft baut man nicht auf, indem man Städte anders baut. Das, so scheint mir, ist bis heute ein weit verbreitetes Missverständnis in der Architektur und Stadtplanung.
Es scheint mir wie so oft in der Menschheitsgeschichte: Statt die zugrundeliegenden Problemursachen zu analysieren und gezielt die Nachteile auszumerzen, aber die Vorteile beizubehalten, entschied man sich für eine Radikalumkehr. Man wandte sich von einem Extrem dem anderen Extrem zu. Und so landete man von der extremen Dichte und Nutzungsdurchmischung in einer absoluten Funktionstrennung und maßlosem Flächenverbrauch in leblosen Stadtteilen.
Es war nicht nur der Nationalsozialismus, der die Städte zerstörte. Die Nachkriegsstadtplanung tat ihr Übriges dazu – bis heute
Die Stadtplanung nach dem Krieg hat die gründerzeitliche Stadt verabscheut. Der Funktionalismus war nach dem Krieg die Antwort. Viertel (fast) nur für das Wohnen, möglichst mit nach Sonnenstand ausgerichteten, immer gleichen Zeilen- oder Punkthäusern. Viertel (fast) nur für das Arbeiten. Viertel (fast) nur zur Erholung oder mit Parks und Grünflächen. Das Ergebnis: tagsüber tote und seelenlose Wohnviertel („Schlafstädte“), abends tote und seelenlose Büroviertel (z.B. City Nord, Innenstadt, City Süd/Hammerbrook).
Die Entfernungen zwischen den „Funktionen“ wurden dadurch größer. Arbeitete man früher noch häufig im Wohnumfeld, geschieht das immer weniger – denn im Wohnumfeld gibt es in der funktionsgetrennten Stadt kaum noch Arbeitsplätze, sondern fast nur noch andere Wohnungen.
Diese größeren Wege zwischen den Funktionen müssen überwunden werden. Und sie werden es, mit dem Wirtschaftswundermotor Automobil. Die alte Stadt fiel somit erst dem Nationalsozialismus und dem Krieg zum Opfer, um im Anschluss vom funktionalistischen Wiederaufbau und zuletzt der im damaligen Zeitgeist daraufhin notwendigen autogerechten Stadt endgültig beerdigt zu werden. Das ist nichts, was wir dem Krieg oder gar den Alliierten zuschreiben können. Das sind die Grundsätze unseres Planungsrechts bis heute, über das wir entschieden haben und das wir bis heute weiterführen, statt es mal grundsätzlich zu reformieren.
Es gibt Menschen, beispielsweise in Dresden, die sich Jahr für Jahr in die Opferrolle begeben und beweinen, dass die bösen Allierten völlig grundlos deutsche Städte zerstört hätten. Und sicher ist das morale bombing aus heutiger und möglicherweise auch bereits aus damaliger Perspektive grundsätzlich zu verurteilen. Natürlich zielte die Operation Gomorrha auch stark auf die Zivilbevölkerung. Erstens darf man dabei aber nicht ausblenden, wer diesen maßlosen Krieg in die Welt getragen hat. Das waren nicht die Allierten, sondern Deutschland.
Und zweitens: Selbst wenn man das morale bombing verurteilen mag und den Allierten die Schuld am Verlust unserer Städte in die Schuhe schieben möchte. Die Art und Weise, wie wir die Städte wieder aufgebaut haben, können wir nur uns selbst in die Schuhe schieben.
Ich sehe das so: Die Kriegszerstörungen wurden im Ausgangspunkt von Deutschland verursacht. Die Art und Weise des Wiederaufbaus auch. Einst ein Musterbeispiel einer europäischen Stadt ist Hamburg heute, insbesondere in den extrem zerstörten Gebieten östlich der Alster, eher eine von immer gleich aussehender Zeilenbebauung und breiten Schneisen für den privaten Autoverkehr entstellte Ansammlung von Häusern denn ein interessanter und abwechslungsreicher Stadtraum. Und auch in den vom Krieg weniger stark gezeichneten Stadttteilen westlich der Alster und den damaligen Vororten hinterließen die Leitbilder der Nachkriegsstadtplanung tiefe Wunden, die bis heute offen liegen. Vieles, was den Krieg überdauerte, wurde erst im Anschluss weggerissen, um Raum für Straßen und neue Häuser zu machen. Vieles, was den Krieg überdauerte, wurde erst im Anschluss weggerissen, um Raum für Straßen und neue Häuser zu machen.
Ich schrieb es in These 1 bereits ausführlicher: Natürlich ist aus damaliger Perspektive verständlich, dass man sich von der „alten“ Art und Weise, Stadt zu planen, radikal abwandte. Gerade in Hamburg führten auch die Erfahrungen des Feuersturms der Operation Gomorrha dazu, dass man weniger dicht und stattdessen mit mehr Abständen bauen wollte. In Zeiten des Wiederaufbaus unmittelbar nach dem Krieg konnte niemand damit rechnen, dass Deutschland acht Jahrzehnte Frieden bevorstehen würden. Der Schock des zweiten Weltkriegs saß noch tief, der kalte Krieg stand vor der Tür. Dass sich das auch in der Planung niederschlägt, ist nur allzu verständlich.
Aber knapp 80 Jahre später müssen wir uns doch langsam mal fragen, ob es immer noch zeitgemäß ist, alles streng nach Funktionen zu trennen. Bis heute ist diese Herangehensweise im deutschen Baurecht festgeschrieben, wenn auch ganz langsam leichte Reformen anklingen. Beispielsweise mit dem vor wenigen Jahren neu eingeführten „urbanen Gebiet“ in der BauNVO. Dennoch: Die Baunutzungsverordnung verkörpert auch knapp 100 Jahre nach der Charta von Athen weiterhin im Grundsatz ihren Geist. Nutzungsdurchmischt und mit höherer Dichte zu planen, ist bis heute aufgrund des vorherrschenden Planungsrechts sehr schwierig in Deutschland.
Die „Stadt der kurzen Wege“ oder „15-Minuten-Stadt“ ist gar nicht so neu – sie war früher überall Standard
Egal wie verständlich die Abwendung von der gründerzeitlichen Stadt damals für die Menschen war. Die noch immer vorherrschenden regulatorischen Grundsätze der Nachkriegsstadtentwicklung führten und führen zu großen Problemen. Wir müssen damit anfangen, zukunftsorientierte Stadtentwicklung zum Regelfall zu machen. Das geht nur mit einer grundlegenden Reform der übergeordneten Regelwerke, wie beispielsweise der BauNVO, aber auch begleitender Regelwerke wie der StVO und dem Straßenverkehrsrecht insgesamt.
Diese Entwicklung klingt mittlerweile ganz langsam an. Sie schlägt sich aber bisher noch nicht in umfassenden Reformen der relevanten Regelwerke nieder. Verschiedene Akteure in der Debatte fordern aber durchaus seit einigen Jahren vermehrt eine Planung, die auf die „15-Minuten-Stadt“ oder auch die „Stadt der kurzen Wege“ oder ähnliches ausgerichtet ist.
Ich sehe das ähnlich. Was wir brauchen ist Dichte, klare Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Räumen, Innen- statt Außenentwicklung, Nutzungsdurchmischung. Und ein öffentlicher Raum, der auf Aufenthaltsqualität, Hitze- und Wassersensibilität und gute Bedingungen für den Fußverkehr, Radverkehr und den ÖPNV hin optimiert ist. Bei all diesen zurzeit in der Debatte vorgebrachten Konzepten und Schlagwörtern scheinen mir diese Sachen in der Öffentlichkeit aber immer als bahnbrechende Neuigkeiten verkauft zu werden.
Wenn man sich in der Kartenanwendung und in den Luftbildvergleichen ansieht, wie begrünt und lebendig öffentliche Räume in Hamburg vor der Operation Gomorrha und dem zweiten Weltkrieg mal waren, die heute fast nur noch vollversiegelte und dem Kfz-Verkehr zugutekommende Flächen sind, erkennt man: Was heute von Experten und Wissenschaft unter Schlagworten wie „blaugrüne Infrastruktur“, „Stadt der kurzen Wege“, „15-Minuten Stadt“ oder auch ganz allgemein „Verkehrswende“ für die Stadtentwicklung gefordert wird, ist aus städtebaulicher und freiraumplanerischer Perspektive im Großen und Ganzen sehr nah dran an der Stadt, die wir mal hatten. Ins Heute übertragen, wäre sie lebenswerter, sicherer und günstiger für die Gesellschaft als Ganzes. Sie und der Sinn für ihre Vorteile sind uns leider verloren gegangen. Das muss aber nicht so bleiben.
Wir wissen eigentlich, wie Städte gut, kosteneffizient und lebendig funktionieren. Wir hatten diese heute als neue Konzepte wahrgenommenen „15-Minuten-Städte“ oder „Städte der kurzen Wege“ nämlich mal nahezu überall, bevor der Funktionalismus und das Automobil Einzug hielten. Es wäre meiner Meinung nach langsam Zeit dafür zu sorgen, dass wir sowas auch wieder rechtssicher und einfach planen können. Das tun wir in den meisten Fällen leider nämlich bis heute nicht.
Der öffentliche Raum hatte mal Qualität für die Menschen. Sie wurde für Qualität für den Kfz-Verkehr geopfert
Orte, die den Platz noch heute im Namen tragen, waren vor der Operation Gomorrha wirklich Plätze. Für Menschen, Grünräume, Aufenthalts- und Begegnungsräume. Heute handelt es sich dabei um vor allem vom Kfz-Verkehr dominierte Verkehrsräume. Egal an welchen größeren Platz man in den Luftbildvergleichen schaut, das Muster ist nahezu überall identisch: Der einstige Platz ist heute eine Kreuzung. Eine Umbenennung zu „Deichtorkreuzung“, „Stephanskreuzung“ und so weiter wäre längst überfällig, denn Plätze sind das alles nicht mehr.
Gleiches gilt für die zahlreichen Orte, die den „Markt“ nur noch im Namen tragen. Eppendorfer Markt. Winterhuder Markt. Eimsbüttler Markt. Barmbeker Markt. Veddeler Markt. Wandsbek Markt. Sie alle waren mal Plätze für Menschen. Räume für Begegnungen.
Dies betrifft nicht nur punktuell Orte, sondern zieht sich auch in Form linearer Infrastrukturen durch die Stadt. An zahlreichen Orten wurden nach der Operation Gomorrha vormals intakte Quartiere im Wiederaufbau von massiven Kfz-Schneisen durchzogen, die die Nachbarschaften trennen. Ost-West-Straße. Ring 2. Sievekingsallee/Bürgerweide. Drosselstraße. Um nur einige zu nennen. An so vielen Orten wurde getrennt, was vorher zusammengewachsen war.
Die Stadt wuchs nach außen. Siedlungsfunktionen wurden getrennt, Quartiere durchschnitten. Die Entfernungen wurden größer, während der öffentliche Nahverkehr an vielen Stellen im öffentlichen Straßenraum verschlechtert wurde. Die Straßenbahn wurde abgeschafft, der Bus musste sich dem übrigen Kfz-Verkehr unterordnen. Neue Straßen brachten die Autos von den neuen reinen Wohnquartieren am Stadtrand zu den neuen reinen Arbeitsquartieren in die Stadt. Bis heute sind die Quartiere zerschnitten. An Aufenthaltsqualität oder gar attraktives Wohnen entlang der Magistralen ist bei den heutigen Verkehrsstärken kaum zu denken.
Der rote Backstein war nicht so typisch für Hamburg, wie es auf den heutigen Blick scheint
Kaum eine norddeutsche Stadt wird so mit Gebäuden aus rotem Backstein verbunden wie Hamburg. Und fährt man heute durch die Stadt, ist das auf den ersten Blick auch klar nachvollziehbar. Vor allem im Osten Hamburgs prägen Zeilenbauten aus rotem Backstein den städtebaulichen Charakter. Der Großteil dieser weite Teile der Stadt prägenden Gebäude entstand jedoch erst zwischen etwa 1950 und 1970 im Wiederaufbau der im Feuersturm zerstörten Stadtteile.
Die Schadenskarte und die Luftbildvergleiche offenbaren, dass die städtebauliche Tradition Hamburgs an diesen Orten viel mehr der gründerzeitliche Altbau in Blockrandbebauung war. Der größte Teil davon ist im Krieg und insbesondere durch die Operation Gomorrha verloren gegangen. Stadtbildprägend war damals fast flächendeckend eine Bebauungsstruktur wie heute noch in Eppendorf oder am Schulterblatt erlebbar. Wenn man vom stilprägenden, traditionellen Hamburger Backsteinbau spricht, muss daher klar zwischen den Entwicklungen der Zwischenkriegszeit und denen der Nachkriegszeit unterschieden werden.
Der heute als typisch und traditionell für Hamburg angesehene rote Backsteinbau beschränkte sich auf im Verhältnis zur gesamten bebauten Fläche verhältnismäßig kleine Gebiete. Natürlich sind in diesem Stil auch ganze zusammenhängende Stadtteile geplant und gebaut worden. Prominente Beispiele dafür sind vor allem die Jarrestadt, Barmbek-Nord, das östliche Hamm und der Dulsberg. Sie alle sind zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg unter Regie des damaligen Oberbaudirektors Fritz Schumacher entstanden.
Ohne Frage sind sie bis heute bedeutende Zeugnisse der Baugeschichte der Stadt. In kleinerem Maßstab entstand in ähnlicher Form die Backsteinsiedlung auf der Veddel. Und natürlich im zentralen Hamburg das Kontorhausviertel als prägendes Ensemble sowie zahlreiche weitere bedeutende Einzelbauten dieser Zeit. Auch im damals noch unabhängigen Altona vollzog sich unter Stadtbaurat Gustav Oelsner eine ähnliche städtebauliche Entwicklung an den westlichen und nordwestlichen damaligen Rändern vom dicht bebauten Ottensen.
Einige dieser neuen Stadtteile wurden im Krieg ebenfalls erheblich getroffen und in Teilen zerstört. Dies betrifft insbesondere die Jarrestadt, Dulsberg, Hamm und Barmbek-Nord. Anders als die gründerzeitlichen Quartiere, die mit lockerer Zeilenbebauung losgelöst von der ursprünglichen städtebaulichen Struktur wiederaufgebaut wurden, wurden die noch vergleichsweise jungen Backsteinstadtteile jedoch in gleicher oder ähnlicher Struktur wieder aufgebaut.
Dass der rote Backstein jedoch so flächendeckend, wie es heute wahrgenommen wird, das Stadtbild prägte, ist eine vergleichsweise junge Entwicklung der Nachkriegszeit. Ohne Frage sind die Bauten der Zwischenkriegszeit bedeutende Zeugnisse Hamburger Baukultur und der Neuen Sachlichkeit/des Reformwohnungsbaus. Man sollte aber nicht den Fehler machen zu glauben, dass Hamburg schon immer eine Stadt aus rotem Backstein war.
Der rote Backstein war in Hamburg bis zum zweiten Weltkrieg im wahrsten Sinne des Wortes überwiegend eine Randerscheinung. Seine Nutzung beschränkte sich in der inneren Stadt auf Einzelbauten und punktuelle Ensembles. Größere, zusammenhängende Quartiere gab es im Verhältnis zur gesamten Ausdehnung der damaligen Stadt nur in kleineren Bereichen am damaligen Stadtrand.
Den weitaus größten Teil der Stadt prägte bis 1943 gründerzeitlicher Altbau in Form des klassischen Hamburger Schlitzbaus („Hamburger Knochen“), oft mit rechtwinklig dazu in den Innenhöfen angeordneten Hamburger Wohnterassen.